Purpose Marketing ist nach wie vor die Disziplin der Stunde. In Krisensituationen ist allerdings Fingerspitzengefühl vonnöten. Eine Umfrage zeigt, dass es die meisten Deutschen begrüßen, wenn Unternehmen Haltung zum Ukraine-Krieg beziehen. Allerdings offenbart sich hier eine Kluft zwischen West- und Ostdeutschland – und zwar auch bei der Frage der Produktauslistung.

Der Krieg in der Ukraine stellt auch Marken und Unternehmen vor große Herausforderungen. Wohlfeile Absichtserklärungen zählen im Angesicht des Krieges nicht mehr, gefragt sind jetzt Taten. „Wer Haltung verspricht, muss sie jetzt wirklich zeigen“, schrieb kürzlich HORIZONT-Chefredakteurin Eva-Maria Schmidt. Im Zweifelsfall sollten Unternehmen „einfach mal die Klappe halten“, wenn sie keinen echten Beitrag leisten können, meint Heiko Schmidt, Geschäftsführer Kreation von Vasata Schröder in seinem Gastbeitrag. Und appelliert an Agenturen, auf Gold-Ideen zum Thema Ukraine zu verzichten.

Schon immer gab es Menschen, die sich zu jedem Thema äußern, ob gefragt oder ungefragt. Die Sozialen Medien haben diesen Trieb zum Volkssport werden lassen. Und weil das Kommentieren so leicht geht und man ja ganz offensichtlich auch gehört wird, machen das nicht nur die üblichen Wichtigtuer, sondern eben auch Marken.

Angetrieben vom Mantra, dass jede Brand einen Purpose braucht, den man gar nicht laut genug herausposaunen kann, fühlen sich viele Verantwortliche im Marketing in der Pflicht, die Weltlage zu kommentieren und Position zum Zeitgeist zu beziehen.

Früher gab es Markenwerte, die man lebte. Heute ist Haltungskommunikation Teil des Mediaplans. Oft erlebt man dabei ein geringes Gespür für die Fallhöhe der eigenen Aussagen. Edekas gedrechselte Freiheitszeile ist nur das offensichtlichste Beispiel dafür, wie es sich anfühlt, wenn die vermeintlich altruistische Haltung auch ein bisschen was für die Marke tun soll. Der Sturz von Krieg auf das Niveau von Branding und Award-Idee tut weh.

Als Oliviero Toscani ADC Ehrenmitglied wurde, redete er uns ins Gewissen und sprach von der Verantwortung, die wir mit den großen Kommunikationsbudgets im Rücken tragen. Recht hat er: Marken sollten Position beziehen und eine Haltung spürbar werden lassen. Aber glaubwürdig und relevant ist es eben vor allem bei Fragen, die die Marken im weitesten Sinn selbst betreffen. Ein Supermarkt positioniert sich gegen den Krieg? Entschuldigung, ich dachte, das sei common sense.
Bei Marken ist es letztlich nicht anders als bei Menschen: wenn man keinen Beitrag zum Erkenntnisgewinn leisten kann, darf man auch einfach mal die Klappe halten. Krieg ist furchtbar. Ein Plakat, das diesen common sense in CI-Farben wiederkäut, ist schnell nah an selbstüberschätzendem Geltungsbedürfnis, es ist fadenscheinig und beinahe eklig. Jeder Konsument spürt, dass sich die Marke einen Vorteil erhofft.

Krisen werfen ein helles Licht auf diesen Haltungsopportunismus in der Kommunikation. Mancher Schönwetter-Purpose entwickelt eine erschreckende Fallhöhe und wird zum Boomerang. Es wird spannend sein, wie Marken in Zukunft mit der steigenden Sensibilität der Kunden umgehen.

Weniger spannend, eher besorgniserregend ist die Aussicht im Mai in einer ADC-Jury zu sitzen und auf Award-Ideen zum Thema Ukraine zu blicken. Krisen sind für Awardjäger „low hanging fruits“ – in der Aussicht auf kreativen Ruhm verschwindet das Gefühl für die Fallhöhe manchmal schneller als man „Vorsicht!“ rufen kann.

Mein ein Appell an Marketing und Werbung daher: Tut, was in Eurer begrenzten Macht steht, kappt wirtschaftliche Beziehungen zu Russland, nutzt Eure Infrastruktur, schickt Laster, spendet Geld. Aber erspart uns bitte Award-Einreichungen zu diesem Thema.

Zum Original-Beitrag bei Horizonte